Aktuelle Citizens‘ Juries / Planungszellen

Im Folgenden listen wir die uns bekannten Planungszellen/ Bürgerbegutachtungen der letzten Zeit auf.  Am Ende gibt es einen Link zum Archiv.

2018

Sundern (Sauerland). Für die Neugestaltung der Innenstadt wird an eine Planungszelle gedacht [Kommentar: Das ist natürlich sehr zu begrüßen; allerdings sollte gerade bei solche recht kleinen Orten die Basis vergrößert werden, also durch Auslosung von Bürgern aus umliegenden Gemeinden, die Sundern auch nutzen oder die als Nachbarn durchaus konstruktiv ihre Erfahrungen einbringen können. Es ist für Planungszellen sehr hilfreich, wenn sich die meisten Teilnehmer zum Start nicht kennen, so dass sie sich ohne Vorerfahrungen begegnen.]

2017

Bayern – Zukunft 2030. Zu einem großen Prozess gehören 8 regionale „Bürgerkonferenzen“  im Oktober und November 2017, die zweitägige Kurzplanungszellen darstellen. Durchführungsträger ist IFOK. Termine:
Schwaben: Stadt Memmingen
Oberfranken: Stadt Bamberg
Unterfranken: Landkreis Rhön-Grabfeld
Oberpfalz: Landkreis Neumarkt i.d.OPf. (28. und 29. Oktober)
Mittelfranken: Stadt Ansbach (4. und 5. November)
Oberbayern: Landeshauptstadt München (11. und 12. November)
Oberbayern: Landkreis Garmisch-Partenkirchen (25. und 26. November)
Niederbayern: Landkreis Deggendorf (18. und 19. November)
Anschließend können sich alle Bürger in einem Online-Verfahren beteiligen. Zur Projektseite.
Vom  27.12.2017 bis 4.2.2018 stehen die erarbeiteten Vorschläge aus den Bürgerkonferenzen online und können kommentiert werden.

München, Oktober 2017: Zur Zukunft des Viktualienmarkts; Durchführungsträger: Gesellschaft für Bürgergutachten (GfB). Vorbereicht: Süddeutsche Zeitung.

Bocholt, 6.-8. November 2017: 3 Planungszellen beraten über die „Zukunftsstadt Bocholt 2030+“. Projektinfos. Durchführungsträger: Institut für Demokratie und Partizipationsforschung (IDPF, Prof. Hans Lietzmann) der Uni Wuppertal/ Forschungsstelle Bürgerbeteiligung (wo seinerzeit die Planungszelle von Peter Dienel entwickelt wurde) und gfb – Gesellschaft für Bürgergutachten (Prof. Hilmar Sturm). Vorbericht: focus. PM zum Start. Im März 2018 wurde das Bürgergutachten Zukunftsstadt Bocholt 2030+ vorgestellt (als pdf downloadbar). Das Besondere an dem Verfahren war ein Test:

Während in zwei Planungszellen Bürgerinnen und Bürger mit Unterstützung der Experten beraten, beraten in einer dritten Planungszelle Interessensgruppen und die Politik. Für die Moderatoren besteht darin ein hohes Forschungsinteresse: „Erstmals können wir so untersuchen, ob die Interessensgruppen und die Politik gleiche Schwerpunkte setzen, wie die repräsentativ zufällig ausgewählten Bürgerinnen und Bürger.“

München (Planungsregion) „Bürgergutachten mit (4) Planungszellen zur Entwicklung der Region München“. PZ 8. bis 18. Februar 2017, Vorstellung Bürgergutachten 16. Mai 2017 (noch nicht online). Ausführlicher Bericht in der Süddeutschen, Kurzbericht OVB-Online. Durchführung: Nexus. Aus einer PM: „Rund 100 nach statistischem Zufallsverfahren ausgewählte Bürger der Region München diskutierten zwei Wochen lang die wichtigsten Zukunftsthemen. Das beauftragte nexus Institut Berlin organisierte und moderierte das Verfahren als unabhängiger Experte. Damit jeder Bürger die gleiche Chance hat und auch die oft schweigende Mehrheit berücksichtigt wird, wurden die Bürger per Zufallsverfahren ausgewählt.“

Braunschweig (Regionalverband Großraum Braunschweig).   Im Februar 2017 kamen vier Bürgergruppen zur Beratung über regionalen Klimaschutz zusammen. Das „Bürgergutachten zum Masterplan 100% Klimaschutz im Großraum Braunschweig“ wurde im November veröffentlicht (pdf). Durchführungsträger dieser Bürgergutachten/ Planungszellen  war „KoRiS – Kommunale Stadt- und Regionalentwicklung“, die u.a. Bürgerbeteiligungsverfahren anbieten.

 

2016

Thüringen: Gebietsreform (vorgesehen sind 4 Planungszellen mit nur 3 Tagen länge im November 2016, konkret: 27.10.1016 – 29.10.2016 in Suhl (Südwestthühringen); 03.11.2016 – 05.11.2016 in Tambach-Dietharz (Mittelthüringen), 10.11.2016 – 12.11.2016 in Gera (Ostthüringen) und 17.11.2016 – 19.11.2016 in Mühlhausen (Nordthüringen). (mdr-Zwischenbericht; Kritik mdr am Verfahren; Ausführliche Informationen der Landesregierung Thüringen; Teilnehmer erhalten keinen Bildungsurlaub; Start-Bericht focus.de; 1. Planungszelle abgeschlossen – Projektseite zur Gebietsreform, 3.11.2016).
Das Bürgergutrachten kann hier als pdf geladen werden. Durchführungsträger war nexus.
Update Juni 2017: Politik verspricht, die Empfehlungen „weitestgehend“ umzusetzen

Wuppertal: Außgerechnet am ehemaligen Wirkungsort des Erfinders gab es bisher noch nie eine Planungszelle. Das hat sich nun geändert – ausgeloste Bürger haben über die Errichtung einer Seilbahn beraten und diese befürwortet. 2 Planungszellen, 21. bis 24. September 2016 (Nexu Institut Berlin)
Die Idee zur PZ kam von „Bürgerbeteiligungsdezernent“ Panagiotis Paschalis. (Vorbericht: Cronenberger Woche, Februar 2016; „Das kann ich jedem nur empfehlen“ Cronberger Woche, 6.10.2016; Kommentar Wuppertaler Rundschau 10.11.2016)

Holzkirchen: Integriertes Mobilitätskonzept (durchführendes Institut: Gesellschaft für Bürgergutachten, April 2016) (Bericht 1, Bericht 2 Merkur, ) (Bürgergutachten Holzkirchen zum Download

Potsdam: Wiederaufbau der Garnisonskirche (derzeit gibt es Streit ums Procedere) (MAZ-Bericht 26.01.2016); Update: Durchführung eines Bürgergutachtens abgelehnt;

2015

Wermelskirchen, Hückeswagen, Burscheid: „Unser Wasser im Bergischen“, 2 Planungszellen (50 Personen), 2. bis 5. November 2015 (Oberberg Aktuell)

Wetzlar: Planungszelle zur Freibadgestaltung (Durchführendes Institut: Forschungsstelle Bürgerbeteiligung, Wuppertal; 23.-26.09.2015), Ende September 2015; Zwischenbericht ; Einzelstimmen dazu.

Hannover: Abfallgebühren-Modell. Dieses Bürgergutachten weicht methodisch vom Planungszellen-Standard ab: die Hälfte der Teilnehmer hatte sich selbst beworben, zudem fanden die Zusammenkünfte mit zeitlichen Pausen statt (am 04.09.2015, 10.09.2015 und 11.09.2015 im Haus der Region)
; die Kleingruppen der Bürgergutachter berieten nicht die selben Themen und Moderatoren waren laut Gutachten immer wieder zu gegen. Durchführungsträger: INFA – Institut für Abfall, Abwasser und Infrastruktur-Management GmbH, Ahlen/Westfalen. (Vorbericht, Bericht 1 Hannoversche Allgemeine), Bericht 2, ) (Bürgergutachten Abfallgebühren Hannover und ergänzende Dokumente zum Download)

Planegg (Bayern): Ortsentwicklung; Bürgergutachten demnächst bei nexus.

Archiv:

Siehe auch: Liste älterer Planungszellen

Derzeit noch in der Schwebe/ Ankündigungsphase ist folgendes Projekt:

Gießen: wg. Autoverkehr in der Innenstadt (Bericht Gießener Allgemeine)

Losen statt Wählen

reybrouck--against-elections-verlagscoverVor drei Jahren schon hat der belgische Autor (und Historiker, Ärchäologe und Ethnologe) David Van Reybrouck ein tolles Buch über die demokratische Methode der Auslosung geschrieben: „Tegen verkiezingen“. Nun ist es fast zeitgleich auf Englisch und Deutsch erschienen: Against Elections – Gegen Wahlen. Das schnöne: Dank seines Promistatus konnte Reybrouck so ein wichtiges Feld der Demokratiereform in die Massenmedien bringen, denn Spiegel, Süddeutsche, Welt etc. standen alle sofort parat und haben rezensiert bzw. Interviews geführt (Linksammlung).

Wir verweisen darauf, dass es zur „Losdemokratie“ schon allerhand Schriften gibt – eine kleine Auswahl haben wir auf unserer Literaturseite gesammelt.

Reybrouck meint es sicherlich ernst mit der aleatorischen Demokratie – er schlägt ein ausgearbeitetes Modell vor, das im Wesentlichen auf Terrill Bouricius basiert. Für die meisten Journalisten, die sich damit beschäftigen müssen, scheint es hingegen mehr eine intellektuelle Übung zu sein: die Möglichkeit, das parlamentarisch-repräsentative System des Westens mit seiner alles Beherrschenden Macht der politischen Parteien könnte nicht das Ende der humanen Evolution sein, wird überwiegend nicht gesehen.

Spätestens, wenn es eigentlich um die Frage gehen müsste, wie man denn aleatorische Demokratie einführen bzw. erstmal ausprobieren könnte, endet das Rechercheinteresse der Medien. Mal kurz über die Historie des Auslosens kann man ja sprechen, ein wenig Kritik an diesem und jenem üben – aber dann muss man doch auf alle Fälle so weitermachen wie bisher. Weiterlesen

Aleatorische Demokratie: Die Ausgelosten sind wir

Die Idee, ausgeloste Bürger sollten für die Gesamtheit entscheiden können, sorgt bei fast allen für Irritationen, die zum ersten Mal von der Idee hören. Obwohl sie sich täglich über ihre „gewählten Vertreter“ im Parlament aufregen können, haben sie doch die Befürchtung, „normale Bürger“ würden noch schlechter arbeiten (siehe u.a. „Das Bürgerparlament„).

Eine sehr überzeugende, schön formulierte Argumentation hat nun gerade Tom Atlee notiert in seinem Blog-Post „Pros, cons and the liberation potential of random selection„:

>>When we elect representatives, they are (theoretically) our agents: they are there to do what we want them to do. In this, so the theory goes, they are – and need to be – “answerable” to us, their constituency, and subject to rewards and penalties from us when (in our judgment) they do well or poorly.
With sortition, on the other hand, there is no “they”. The people selected do not have a constituency like an elected official does. “They” are actually “us”. They are doing what we would do if we were selected. And more of us WILL BE selected in the next round of selections. “They” are us, the People, doing the work of co-creating our shared destiny. They may make mistakes or do things some of us individually don’t like, but that is more like when we individually make mistakes or do things we don’t like in our own lives.<< (12. August 2015)

Die für kurze Zeit zur Beratung ausgelosten Bürger sind zwar Stellvertreter für alle (und nicht nur für „ihre Wähler“), aber sie müssen dafür kein Mandat verhandeln, sich nicht rechtfertigen, schon gar nicht mit (fiktiven) Ideen bewerben – sie sind  einfach nur sie – und damit in der Summe „wir“, weil eben rein statistisch alles berücksichtigt wird, und zumindest über mehrere Auslosungen hinweg tatsächlich auch die kleinste Minderheit einmal dabei ist.

Demokratische Innovationen bringen wenig?

Für die Otto-Brenner-Stiftung hat Prof. Dr. Wolfgang Merkel, Wissenschaftszentrum Berlin, eine Studie über demokratische Innovationen vorgelegt*. Sein Fazit: „An erster Stelle muss eine Reformierung und Vitalisierung von Parteien, Parlament und Regierung stehen. Die diskutierten demokratischen Neuerungen können diese Versuche ergänzen, aber nicht ersetzen.“

Bei seiner Untersuchung kommt Merkel für deliberative Verfahren wie die Citizens Jury/ Planungszelle laut Pressemitteilung zu folgendem Schluss:

Deliberative Verfahren, die in einem moderierten Prozess der Beratung auf den „zwanglosen Zwang“ des besseren Arguments setzen, sind vor allem für die Mittelschichten partizipationsfördernd. Ein Konzept, das solche Diskurse ohne Ausschluss der bildungsfernen Schichten etablieren könnte, wurde bisher in den entwickelten kapitalistischen Demokratien der OECD-Welt nicht vorgelegt.
Demokratische Deliberation kann aber dazu beitragen, gesellschaftliche Diskurse zu repräsentieren, die sonst in der interessen- und machtüberladenen Sphäre der repräsentativen Demokratie nur wenig Gehör finden. Gute Erfahrungen hat Brasilien mit seinen Public-Policy Konferenzen zu Themen wie Gesundheitsversorgung, Sozialpolitik und Bildung gemacht. Der Beweis, dass diese auch verteilungspolitisch relevanten Maßnahmen in den reifen Demokratien der OECD-Welt ebenfalls akzeptiert werden, ist kaum zu erwarten.

Eine Rezension der Studie gibt es hier: „Nur wissenschaftlicher Schein?– Merkel verkorkst Studie über demokratische Innovationen“

*) OBS-Arbeitsheft 80: Nur schöner Schein? Demokratische Innovationen in Theorie und Praxis;
Vollständige Pressemitteilung

Aktuelles aus den Medien

+ PZ-Netzwerker Wolfgang Scheffler, der inzwischen auch eine eigenen Partei für Bürgergutachten initiiert hat, leiert in seinem kleinen Wohnort Aislingen gerade zum dritten Mal ein Bürgergutachten an. Mit den „großen“ Bürgergutachten ist dies allerdings nicht zu vergleichen – u.a. weil sich die meisten Teilnehmer gut kennen dürften.

+ Die Planungszelle zum Freibad in Wetzlar hat die verkrampften Politiker nicht wirklich gelockert. Die hacken offenbar weiter aufeinander ein, die Opposition poltert: „Für diese Show haben Sie 70 000 Euro in den Sand gesetzt!“ (19.02.2016)

cover_qualitaet+ Wichtige Neuerscheinung: Die Qualität von Bürgerbeteiligungsverfahren – Evaluation und Sicherung von Standards am Beispiel von Planungszellen und Bürgergutachten; herausgegeben von Hans-Liudger Dienel, Antoine Vergne, Kerstin Franzl, Raban D. Fuhrmann und Hans J. Lietzmann; mit Beiträgen zur Planungszelle/ Jugendplanungszelle/ Youth Citizens Jury von Timo Rieg u.a. | Oktober 2014, oekom verlag München, 34,90 €, 472 Seiten, ISBN: 9783865812476

+ Prof. Hans Lietzmann (Uni Wuppertal) über Bürgerbeteiligung 3.0

+ Auslosgung als Gremienbesetzung in der evangelischen Kirche: Losen statt Wählen (Publik Forum 4/2015, S. 36f)

Ferner Verweise auf einige ältere Beiträge (Archiv):

+ Mehr deliberative Demokratie für die Schweiz: Forderung nach mehr Deliberation in der Schweiz (Lukas Leuzinger, 3. Oktober 2014)

Planungszelle zum Tempelhofer Feld Berlin

Zur Bebauung des ehemaligen Flughafens Tempelhof in Berlin wurden im November 2013 drei parallel beratende, zweitägige Kurz-Planungszellen durchgeführt. Die Ergebnisse als Bürgergutachten liegen nun vor (Bericht + pdf)

Da es zur Frage, ob der ehemalige Flugplatz überhaupt (am Rand) bebaut werden soll oder ob er in seiner derzeit genutzten Form als offener Bürgerpark erhalten bleiben soll, zur Europawahl eine Volksabstimmung in Berlin durchgeführt wird, ist folgendes anzumerken:

* Die Planungszellen hatten sich nicht mit der Frage zu beschäftigen, ob überhaupt bebaut werden soll oder nicht. Denn diese Fragestellung war nicht im Interesse des Auftraggebers (Senator für Stadtentwicklung und Umwelt Michael Müller), und die Planungszellen hätten dazu ganz andere Themeneinheiten und Fachleute gebraucht (u.a. Begutachtung anderer vorhandener Flächen, Bedarfsanalysen etc.).

* Die Planungszellen wurden laut Bürgergutachten offenbar sehr intensiv mit dem Auftraggeber abgestimmt. Auf Seite 19 heißt es dazu:

„Die thematischen Schwerpunkte der Planungszellen zur Entwicklung des Quartiers am Tempelhofer Damm wurden in enger Abstimmung mit dem Auftraggeber, der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt, ausgewählt und als Agenda inhaltlich ausgearbeitet. […]
Anhand der Themen der Agenda wurden in Absprache mit dem Auftraggeber jeweils zu den Arbeitseinheiten passende, sachkundige Referentinnen und Referenten ausgewählt. Es wurde dabei der Versuch unternommen, möglichst auch gegensätzliche Positionen zu Wort kommen zu lassen.“

Dass der Auftraggeber Einfluss auf die Erarbeitung des – natürlich von ihm vorgegebenen Themas – hat, ist stets ein Konfliktfeld. Für die Unabhängigkeit des Verfahrens sollte es eigentlich keinerlei Eingriffe in die Referenten- und Expertenauswahl geben.

Weitere Informationen und Diskussionen dazu:
* beim unabhängigen Durchführungsträger nexus Institut Berlin
* bei der Tempelhof Projekt GmbH (städtische Einrichtung)
* RBB-Bericht (Text) mit Hinweis auf Kritik